Tocando Pela Vida

Die Metropole Belo Horizonte ist mit ca. 3,5 Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt Brasiliens. Vor etwa 100 Jahren nach dem Vorbild Washingtons geplant und gegründet, ist Belo Horizonte Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais, der bereits zu Kolonialzeiten durch seinen Reichtum an Gold, Diamanten und Edelsteinen von großer Bedeutung war.
Die Einwohner setzen sich zusammen aus den Nachkommen der portugiesischen Kolonialherren, der afrikanischen Sklaven, der indigenen Bevölkerung und der Einwanderer aus Europa, die sich über die Jahrhunderte stark vermischten.
Die Landessprache ist Portugiesisch.

Villen, hochmoderne Bürokomplexe und Wohntürme mit Luxusappartements prägen das Bild im Zentrum der Stadt. An den großen Straßen liegen Banken, teure Geschäfte, Restaurants, Theater und Nachtclubs. Schulen, Fachhochschulen und Universitäten, Privatpraxen und Kliniken stehen vor allem der wohlhabenden Bevölkerung zur Verfügung.
Belo Horizonte ist das Zentrum der brasilianischen Stahlindustrie, die vor allem in den sechziger Jahren starken Aufschwung nahm, wozu große Eisenerzvorkommen in naher Umgebung beitrugen.

 

Als Industriestandort und Dienstleistungszentrum ist Belo Horizonte Anziehungspunkt für unzählige Arbeitsuchende aus dem Inneren von Minas Gerais sowie aus den Nordoststaaten Brasiliens. Die meisten dieser Zuwanderer sind ehemalige Landarbeiter oder Kleinbauern, die aufgrund einer zunehmenden Technisierung der Landwirtschaft arbeitslos geworden, durch Dürre oder durch ungerechte Besitzverhältnisse von ihrem Land vertrieben worden sind.
Ihre Hoffnung, in der Großstadt eine feste Arbeit und ein gutes Einkommen zu finden, hat sich meist nicht erfüllt. Sie leben in den Elendsvierteln am Rande der Stadt, den Favelas. Hier reihen sich die unverputzten kleinen Steinhäuser an armselige Hütten aus Brettern, Blech und Plastikresten. Es gibt oft Schwierigkeiten mit der Trinkwasserversorgung, der Abwasser- und der Müllentsorgung. Ungeziefer und Parasiten sind Ursache vieler Krankheiten. Zunehmende Gewalt, Hunger und Unterernährung bedrohen vor allem das Leben der Kinder.

 

Der Arbeitsmarkt

 

Arbeit zu finden ist schwer. Ohne Schul- und Berufsausbildung können die Männer nur als Hilfsarbeiter im Bauhandwerk oder in den Fabriken, als Gelegenheitsarbeiter, Straßenverkäufer, Tagelöhner oder Lumpensammler Arbeit finden, für nur geringen Lohn und ohne soziale Sicherheit. Viele Menschen sind arbeitslos und haben keinerlei Einkommen.
Frauen und junge Mädchen versuchen als Hausangestellte, Putzfrauen, Restauranthilfen u.ä., Geld zu verdienen. Oft sehen sie in ihrem Kampf ums Überleben nur in der Prostitution einen Ausweg. Auch Kinder und Jugendliche müssen arbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragen. Sie haben keine Zeit für eine fröhliche, unbeschwerte Kindheit, für eine Schul- und Berufsausbildung. Vielen bleibt nur ein Leben auf der Straße, bei dem sie mit Kriminalität, Drogen und Prostitution in Berührung kommen.

 

Östlich des Zentrum von Belo Horizonte im Stadtviertel Aglomorado da Serra liegt an den Berghängen ein Konglomerat von Elendsvierteln, wo ca. 45.000 Menschen unter besonders prekären Bedingungen leben. Sie haben nicht ausreichend zu essen, keine ärztliche Versorgung, und Perspektiven zur Besserung ihrer Lebenssituation sind nicht vorhanden.
Für die Kinder und Jugendlichen gibt es kaum Fördermöglichkeiten. Viele haben Erfahrungen mit körperlicher und seelischer Gewalt gemacht, haben Schläge, Hunger und Einsamkeit ertragen müssen.

 

Der Träger

 

Sie zu fördern und zu unterstützen und ihnen ihre Rechte und Pflichten als Bürger nahe zu bringen, ist das Ziel der Mitarbeiter des „Centro de Integração Martinho CIM“. Träger ist der als gemeinnützig anerkannte Verein „Instituição Beneficente Martim Lutero,, der der evangelisch-lutherischen Gemeinde von Belo Horizonte angeschlossen ist und der in weiteren Einrichtungen Kinder im Kindergartenalter und Senioren fördert.

 

Die Einrichtung

 

Das Zentrum liegt im Armutsviertels „Vila Nossa Senhora da Fátima“. Das Gebäude wurde vom Einwohnerverein zur Verfügung gestellt. Es ist bienenwabenartig verschachtelt und unterscheidet sich kaum von den umliegenden Häusern. Die Einrichtung der Gruppen- und Aufenthaltsräume ist einfach. Ein Holzfußboden und die von den Kindern und Jugendlichen selbst bemalten und gestalteten Wände schaffen eine angenehme und kindgerechte Atmosphäre. Es gibt einen „Spielraum“ und eine Bibliothek.
Jeweils 200 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 7 und 14 Jahren kommen täglich ins Zentrum. Während einer Tageshälfte besuchen sie die Schule, so dass am Vor- wie am Nachmittag je 100 Kinder in der Einrichtung sind. Sie nehmen hier ihre Mahlzeiten ein und erledigen unter Anleitung ihre Hausaufgaben. Die Erzieher stehen in Kontakt zu den Lehrern der Kinder.

 

Besonderes Gewicht legen die Erzieher auf die begleitenden Aktivitäten. Ganz bewusst wird Capoeira – ein Verteidigungs-Tanz, den die Sklaven aus Afrika zu Kolonialzeiten mit nach Brasilien brachten – in der Arbeit eingesetzt. Die Kinder und Jugendlichen, die Schläge, Hunger, Misshandlung und Entbehrung am eigenen Körper erfahren haben, lernen, dass sie sich „in ihrer Haut“ auch wohl fühlen können, dass der eigenen Körper etwas Schönes ist, dass man Kraft einsetzen kann, ohne Schaden zu nehmen und dass man den Körper des anderen respektiert.
Zur Förderung der psychomotorischen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen und zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins werden Musik und Rhythmus als therapeutisches Element in der Arbeit verwendet. Die Kinder basteln aus wiederverwertbarem Material, aus Pappröhren oder mit Draht bespannten Holzbrettern einfache Musikinstrumente. Sie entwickeln dabei Fantasie und Kreativität und erfahren, dass sie selbst etwas schaffen können.
Aus dieser  musischen Arbeit wurde das Ensemble TOCANDO PELA VIDA zusammengestellt: ein Programm mit Flötenmusik und der Perkussion.

 

In Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Psychologie der Hochschule von Belo Horizonte werden die Kinder und Jugendlichen psychologisch betreut und begleitet. In diese Arbeit sind auch die Eltern mit einbezogen. Vor allem die Frauen lernen, in der Gruppe ihre Gefühle zu artikulieren. Die Gruppe bietet ihnen Halt und Orientierung bei Problemen, für die man gemeinsam nach Lösungen sucht.

 

An Samstagen findet in Zusammenarbeit mit einer brasilianischen Nichtregierungsorganisation Unterricht zum Häuserbauen statt, die in Gemeinschaftsarbeit „mutirão“ errichtet werden sollen.

 

Die Einrichtung ist in den Gremien und Foren der Kinder- und Jugendpolitik vertreten, steht in Kontakt und Dialog zu den zuständigen Ämtern und zu anderen, im Bereich der Kinder- und Jugendbetreuung arbeitenden Einrichtungen. Sie setzt sich besonders ein, um Fälle von Gewalt gegen Kinder aufzudecken und die entsprechenden Maßnahmen dagegen einzuleiten.

 

Die Einrichtung erhält Mittel von der Stadtverwaltung von Belo Horizonte, vom Sozialamt, sowie Spenden von Gemeindemitgliedern. Allerdings reichen diese Mittel bei weitem nicht aus, um eine regelmäßige Betreuungsarbeit zu sichern.

 

Projektbeschreiung der Kindernothilfe

 

Die Arbeit mit Musik

 

Mit der musikalischen Arbeit verfolgt das CIM verschiedene Ziele

 

  • Die Kinder und Jugendlichen von 7 bis 18 Jahren anzuleiten, und sie in die Gesamtwelt der Geschichte, der Theorie und der Praxis der Instrumentalmusik einzuführen
  • In Gruppen das Anhören und Praktizieren der Musik anzuregen
  • Durch die Musik die Entfaltung der Sensibilität zu fördern
  •  Die Selbstachtung durch Fortschritte beim Lernen zu steigern
  • Augenblicke der Muße und des Vergnügens zu schaffen durch die regelmäßigen Kontakte mit und die Ausübung der Musik
  • Die Aggressivität in das Spiel der Instrumentalmusik umzuleiten
  •  Die Verbindlichkeit durch die Probestunden, die Sorge für die Instrumente und die Partituren zu       bestärken
  • Die schon fortgeschrittenen  Kinder und Jugendlichen zur Ausbildung an anderen Instrumenten weiterzubringen.

 

In der Arbeit der Musikeinführung von Kindern und Jugendlichen von 7-18 Jahren hat die Musikwerkstatt als Instrumente die Blockflöte benutzt, und zwar aus folgenden grundlegenden Überlegunge: Die Blockflöte erleichtert ein schnelles Einlernen der Mindestmusikkenntnisse ohne große anfängliche technische Kenntnisse, womit sie ein schnelles Musikergebnis ermöglicht und dem Kind einen guten Anreiz gibt. Zudem ist die Flöte ist ein sehr praktisches Instrument zum Transport und verursacht wenig Wartungskosten.

 

Die Musikwerkstatt arbeitet augenblicklich in zwei Einheiten der Betreuung von Kindern und Jugendlichen der IBML: wöchentlich an zwei Nachmittagen in der ‚Oficina de Esperança‘ mit zwei Gruppen (Gesamtzahl 15) und täglich im ‚Centro de Integração Martinho‘ mit 6 Gruppen von je 8 Schülern (im Ganzen 56).

 

Jede Abteilung hat zuerst ein theoretisch-wahrnehmendes Programm (Übungen mit Notenkunde, melodisch-harmonischen Diktaten anhand der Gitarre usw.) von je 40 Minuten an einem der beiden Tage. Am zweiten Tage widmen sie sich 40 Minuten lang der Orchesterpraxis. Für die fortgeschrittenen Schüler wird dann die Orchesterpraxis, das Einüben und das Vorspielen in den Vordergrund gestellt.

 

Das ‚Centro de Integração Martinho‘ und die ‚Oficina de Esperança‘  in denen das Projekt „Tocando Pela Vida“ stattfindet, betreuen 325 Kindern und Jugendlichen. In dem Projekt sind augenblicklich 71 von ihnen, d.h. 22% der Gesamtzahl einbezogen. Für die Jahre 2002 und 2003 sind folgende Ziele vorgesehen:

 

  • Weiterführung der Musikwerkstätten zur Musikeinführung durch Flöten im CIM und der Oficina de Esperança mit Ausweitung um weitere 40 Kinder oder Jugendliche in neuen Klassen.
  • Den Flötenchor zu erweitern (augenblicklich 15 Mitwirkende) bis ein Flötenorchester mit den 24 besten Kindern und Jugendlichen gebildet werden kann.
  • Konzerte des Orchesters zu ermöglichen, sowohl bei Veranstaltungen im Rahmen der CECLBH wie auch außerhalb. Dadurch sollen die Kinder noch mehr motiviert werden. Das Selbstbewußtsein der beteiligten Kinder und Jugendlichen soll dadurch gesteigert werden. Zudem sollen so Mittel und Partner gewonnen werden, um das Projekt tragfähiger zu gestalten und eine größere Anzahl von Gemeindegliedern der CECLBH mit den Diensten der IBML vertraut zu machen.
  • Die am weitesten fortgeschrittenen Schüler mit dem Erlernen anderer Blasinstumente wie Klarinette, Querflöte und Saxophon beginnen zu lassen.

Weitere Informationen

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