Am 1. Februar 1989 wurde der Hogar Albergue para Menores Abandonados (1997 auf Verein „Tres Soles“ umgetauft) als politisch und religiös unabhängige Institution gegründet, mit der Zielsetzung alternative Bildungsarbeit, vor allem Theater und Musik, mit sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu leisten. Erst schufen wir vor allem kleine, wirklichkeitsbezogene Stücke, die wir in unserm Kreis aufführten, später in Schulen, Kinderheimen, Pfarrgemeinden und kleinen Kulturgruppen.
Das „Andentheater“ in Sucre gab uns die Möglichkeit zu längeren Ausbildungskursen. Als wir einen Namen für die Gruppe suchten, gerieten zwei Mitglieder in heftigen Streit und zwei blau geschlagene Augen waren das Resultat. Seither heisst die Gruppe „Ojo Morado“, („Blaues Auge“ oder „Veilchen“). Trotz schwerer finanzieller Probleme machten wir Fortschritte. 1994 wurde „Ojo Morado“ zum ersten Mal zum Nationalen Theaterfestival eingeladen, und 1995 kam es mit unserer Umarbeitung des „Kleinen Prinzen“ (Antoine de Saint Exupéry) zum Durchbruch in der bolivianischen Theaterszene.
In den zwei folgenden Jahren spielten wir im Stadttheater von La Paz, wurden zum Internationale Kulturfestival in Sucre und schliesslich im Januar 1997 zum Lateinamerikanische Volkstheatertreffen (Encuentro Latinoamericano de Teatro Popular) in Santiago de Chile eingeladen.
1997 haben wir das Gedicht „Der Kinderkreuzzug“ von Bertolt Brecht zu einem Theaterstück umgearbeitet. Im Januar 1998 nahmen wir erneut am Lateinamerikanischen Volkstheatertreffen in Chile und ausserdem an zwei internationale Treffen in Argentinien (Muestra Latinoamericana de Teatro in Santa Fé und Encuentro de Teatro Popular de la Triple Frontera in Monte Caseros) teil, im April 1999 am Internationalen Theaterfestival in Santa Cruz de la Sierra.
Ab August desselben Jahres organisierten das alternative Reisebüro „Aventoura“ und unser Trägerverein in der Schweiz eine knapp dreimonatige Tournee durch Deutschland und die Schweiz. In 75 Tagen führten wir den „Kinderkreuzzug“ 61 Mal vor insgesamt mehr als 6000 Zuschauern auf, das heisst im Durchschnitt etwa 100 pro Aufführung . Das verdiente Geld wurde für die Fertigstellung des Hauses unserer Wohngemeinschaft in Quillacollo – Cochabamba (Bolivien) verwendet. In der Wohngemeinschaft leben im Moment 30 sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche.
Das Theater als erzieherische Alternative
Nach der Tournee von 1999 sind wir stärker denn je überzeugt dass das Theater zur Überbrückung von sozialen Gegensätzen und zur Bildung eines starken Gruppenbewusstseins eine sehr wichtige Rolle spielt. Es muss klar festgestellt werden, dass das Leben, das die Kinder und Jugendlichen bisher geführt haben, vielfach auf der Strasse – keineswegs nur schlechte Seiten hat, sondern dass wir versuchen auf den vorhandenen, guten Seiten – die starke innere Kraft , die körperliche und seelische Zähigkeit, die Bescheidenheit, die Treue und Solidarität – ein Lebensweg aufzubauen, der den Kindern und Jugendlichen hilft, ohne tief eingreifende Behandlungen über gewisse Verhaltensweisen hinwegzukommen. Darum sprechen wir in diesem Zusammenhang auch nicht von „Wiederherstellung“ oder „sozialer Rückführung“, sondern von „Bildung“. Ausserdem müssen neue Berufswege gestaltet werden, die es in Bolivien so gut wie nicht gibt.
Die Idee, Theater als erzieherische Tätigkeit zu benutzen ist nicht neu, hingegen das Theater als „Hauptachse“ eines Bildungsprogrammes für sozialbenachteiligte Kinder und Jugendliche schon. Diese Form von Theater besteht nicht nur aus einer erzieherischen Mitteilung, die an das Publikum weiter gegeben wird, sondern muss wie jede andere erzieherische Tätigkeit einen genauen Plan, Zielsetzungen und Inhalte einschliessen . Auch die demokratische Beteiligung aller Gruppenmitglieder ist sehr wichtig, denn wenn die Jungen und Mädchen selbst über die Einsetzung der finanziellen Mittel oder die Massnahmen gegenüber Kameraden, die gegen die Regeln der Gemeinschaft verstossen haben, entscheiden dürfen, können sie das Selbstbewusstsein, das für sie von so grosser Bedeutung ist, entwickeln.
Die Zielsetzung besteht in unserem Fall hauptsächlich in der Bildung des kritischen und unabhängigen Denkvermögens und in der Förderung des Selbstbewusstseins. Wichtig ist Kenntnis der erzieherischen Inhalte, denn genau diese Inhalte sind es, die das Theater als erzieherisches Tätigkeit so wertvoll machen. Zu den wichtigsten zählen Pünktlichkeit, Vorstellungsvermögen, Arbeitsdisziplin, Selbstbewusstsein, Gruppenbewusstsein, Solidarität, Rechtschreibung, Rechnen usw. Um eine grösstmögliche Zahl an Inhalten zu erreichen, müssen wir alle Tätigkeiten einschliessen, die diese Kunstform ermöglicht: gemeinsame Lesung und Erarbeitung von Texten, Kauf von Material, Herstellung von Trachten, Masken und Kulissen, körperliche Vorbereitung, Einrichtung von Licht und Ton, Proben, Aufführungen und Gesprächsrunden mit den Zuschauern.
Die Überwindung der Berührungsängste
Weil wir glauben, dass gewisse, gegenseitige Berührungsängste auch nach der gemachten Erfahrung nicht überwunden sind, haben wir das Thema noch einmal in die Zielsetzungen aufgenommen. Wir unterstreichen das Wort „gegenseitig“, da die Menschen beider Regionen Schwierigkeiten haben, sich vorbehaltslos zu begegnen. Die Menschen der Industrieländer sprechen fast ausnahmslos von „Armen und Bedürftigen“ und die Menschen der Entwicklungsländer glauben, dass die Menschen in der „Ersten Welt“ alle Millionäre seien. Die ersten haben Angst, dem Andersartigen ins wirkliche Auge zu blicken, da sie daran gewöhnt sind, diese nur in Hungersnot- oder Kriegsberichten oder im besten Fall aus dem Hotelfenster – zu sehen. Ausserdem glauben sie, dass die „Armen“ unweigerlich in Ohnmacht fallen, wenn ihnen der unglaubliche Reichtum der Europäer und Nordamerikaner vor die Augen gerät. Warum fallen die „Reichen“ nicht in ebenbürtige Ohnmacht, wenn ihnen die unglaubliche Armut der Entwicklungsländer vor die Augen kommt? Oder anders gefragt, warum glauben sie, dass sie den Kulturschock besser vertragen können als die andern? Weil sie besser gebildet sind? Oder weil sie nicht anerkennen können, dass es auch in der Dritten Welt Menschen gibt, die bestens über die Verhältnisse informiert sind? Oder weil sie nicht glauben können, dass es auch in der Dritten Welt Menschen gibt, die sich in der Art, in der sie leben und in der sie sich um ein besseres Leben für ihre Völker bemühen, wohl fühlen?