Im „Rundbrief Bildungsauftrag Nord-Süd“ Nr. 86 des WUS schreibt der Beigeordnete Hochkommissar für Flüchtlingsschutz des UNHCR, Dr. Volker Türk, über Migration, Flucht und Bildung.
„Bei Bildung geht es nicht nur ums Lernen, es geht ums Ziel“
Ende 2014 waren 59,5 Millionen Menschen weltweit aufgrund von Verfolgung, Konflikt, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen gewaltsam vertrieben. Heute liegen diese Zahlen wahrscheinlich weit darüber. Selbst wenn die nach Europa strömenden Flüchtlinge derzeit Schlagzeilen machen, so stellen sie doch nur weniger als 2% aller Flüchtlinge weltweit dar, was trotzdem enorme Auswirkungen auf Europa hat. Dabei dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass Länder mit wesentlich schwächerer Wirtschaft und wenig tragfähigen Sozialsystemen – häufig auch mit geringerer interner Stabilität – die große Verantwortung für die verbleibenden 98% der Flüchtlinge tragen, die zum Überleben dringend unsere Unterstützung benötigen. Aus den Erfahrungen dieser Länder lässt sich viel lernen, sowohl im Hinblick darauf, wie Europa mit der jetzigen Flüchtlingswelle umgeht, oder auch wie humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit in fragilen Entwicklungskontexten umgesetzt werden kann, damit Flüchtlinge in Würde und mit Hoffnung bis zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer leben können.
Vor nicht allzu langer Zeit bedeutete in der humanitären Hilfe „alles wird dringend benötigt“ vor allem Nahrung, Unterkunft und medizinische Versorgung. Doch heute wird auch klar erkannt, dass der Bildungszugang integraler Bestandteil der Nothilfe sein muss. Laut Erfahrungen des UNHCR wissen wir, dass Bildung in Notsituationen und in der Nachfolgezeit zertifizierbar, rechenschaftspflichtig und nachhaltig sein muss. Deshalb müssen sich Bildungsprogramme für Flüchtlinge vom Anfang an auch an der nationalen Bildungs- und Entwicklungspolitik orientieren.
Weltweit nehmen Entwicklungsländer über 86% aller Flüchtlinge auf.
Der Begriff „Nothilfe“ lässt auf kurzfristige, vorläufige Maßnahmen schließen; doch in manchen Fällen leben Menschen über drei oder mehr Generationen hinweg als Flüchtlinge, und weltweit nehmen Entwicklungsländer über 86% aller Flüchtlinge auf. Und dennoch macht das Budget für humanitäre Bildungsmaßnahmen nur 2% des gesamten humanitären Budgets aus. Auch die von der internationalen Gemeinschaft zugesagten 4% sind viel zu wenig, um weltweit den Gesamtbedarf zu decken.
Der Bereich der Bildung in Notsituationen kann sich heute zur wirksamen Planung und Finanzierung von Bildungsprogrammen auf sichere Daten stützen. Wir wissen, dass die Bildungslaufbahn vieler Flüchtlingskinder und Jugendlicher bereits vor ihrer Flucht oft erheblichen Störungen unterworfen ist, und dass solche Unregelmäßigkeiten häufig zu Schulabbruch und negativen Bewältigungsstrategien führen können.
Wir wissen, dass Zugang zu Bildungssystemen in Erstaufnahmeländern die nachhaltigste Option für einen vollständigen formalen Bildungszyklus ist, dass aber die Kapazitäten der Lehrkräfte und die notwendigen Investitionen zur Überwindung von Sprachbarrieren meist nicht ausreichend vorhanden sind, bzw. nicht zur Verfügung gestellt werden. Wir wissen, dass Lehrkräfte in Flüchtlingskontexten meist nicht über die minimalen Berufsqualifikationen verfügen und dass Bildungsministerien in Erstaufnahmeländern zumeist nicht ausreichend Lehrkräfte für ihre eigene Bevölkerung haben. Es ist weiterhin bekannt, dass Diskriminierung gegen Flüchtlinge und Binnenvertriebene in Schulen häufig zu Schulabbruch führt.
Die Flüchtlinge und Migranten, die jetzt nach Europa strömen, sind in vieler Hinsicht Vorreiter: sie zeigen uns, dass zur Unterstützung von Menschen in humanitären Krisen in Erstaufnahmeländern auch Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung gehören. Bildung ist der erste und wichtigste Schritt zum Schutz dieser stark gefährdeten Menschen.
Positive Auswirkungen von Bildungszugang in Aufnahmeländern
Ein Flüchtlingsmädchen, das heute in einem Aufnahmeland geboren wird, ist bei ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland wahrscheinlich zwischen 17 und 25 Jahre alt. Sie kennt dieses Land nicht, und es galt wohl auch bis zu ihrer Rückkehr als nicht sicher genug, um sie wieder aufzunehmen; wahrscheinlich besitzt die Regierung dort über städtische Grenzen hinaus weder großen Einfluss, noch verfügen Regierungsvertreter über ausreichende Erfahrung und Kompetenz. Im besten Falle befindet sich die nationale Wirtschaft auf demselben Stand wie früher, als ihre Eltern das Land verließen; im schlimmsten Falle sind die öffentlichen Dienstleistungen, Infrastruktur und Umwelt zerstört, was das Wirtschaftsschicksal des Mädchens und ihrer Familie eindeutig mitbestimmen wird.
Hat ein Flüchtling wie sie von einem kompletten Bildungszyklus profitiert, so besteht eine gute Chance, dass sie einen sinnvollen Beitrag zum Wiederaufbau ihres Herkunftslandes leisten kann. Hatte sie die Möglichkeit ihre Grundschulbildung abzuschließen, wird sie über Lese- und Rechenkenntnisse verfügen und so mit der Welt außerhalb ihres Zuhauses interagieren. Hat sie die Sekundarschule abgeschlossen, so konnte sie aufgrund des Studiums von Sprachen, Politik, Geschichte und Naturwissenschaften ihre interkulturelle Offenheit pflegen und ihr Urteilsvermögen stärken.
Hatte sie Zugang zu post-sekundärer Bildung oder beruflicher Weiterbildung, so wird sie die Schlüsselkompetenzen für das 21. Jahrhundert entwickelt haben, welche ihr Beteiligung an kollektiven Entscheidungsprozessen ermöglichen und sie für ihre Aufgaben als Mitgestalterin und Führungskraft in ihrer Gemeinschaft, wie auch als Mitarbeiterin im öffentlichen Dienst, als Angestellte, Gründerin oder Akademikerin vorbereitet haben. Durch Bildung erfasst man die Welt um sich und kann Entwicklungen im Bereich von Bildung, Wissenschaft, Technologie und in der Zivilgesellschaft sowohl im eigenen als auch in anderen Ländern der Welt besser mitverfolgen. Man verschafft sich dadurch auch Klarheit in Bezug auf seine Rechte und Pflichten als Weltbürger. Bildung stärkt auch den Beitrag, den man zur Wirtschaft seiner Gemeinschaft leisten kann; man fördert die Bildung seiner eigenen Kinder, heiratet später als seine Eltern und bekommt so auch weniger Kinder, welche höchstwahrscheinlich gesünder sein werden und wohl seltener Opfer von häuslicher Gewalt.
Gehört sie zu den wenigen Flüchtlingen, die für ein Umsiedlungsprogramm in einem Drittland ausgewählt werden, bringt sie bereits die nötige Fähigkeit zur Anpassung und Eingliederung in eine neue Gesellschaft mit sich und kann Studienchancen, soweit sie dort angeboten werden, bestmöglich nutzen.
Negative Auswirkungen von unzureichendem Bildungszugang in Aufnahmeländern
Gehört diese junge Erwachsene jedoch zu den mehr als drei Millionen Flüchtlingskindern, die 2015 keine Schule besuchten, oder zu den mehr als 50%, die ihre Grundschulausbildung nie abschließen konnten (bei Mädchen liegt der Prozentsatz sogar bei 65%), oder den 75% junger Flüchtlinge, die nie zur Sekundarschule gingen, oder den 99%, die nie Zugang zu post – sekundären Bildungsprogrammen hatten, dann wird sie wahrscheinlich zu der ständig wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Unterschicht gehören, in der Kinder das gleiche Leben wie ihre Eltern führen müssen.
Selbst wenn sie hochmotiviert ist, aber weder lesen, schreiben, rechnen, verhandeln noch ihre eigenen Rechte verstehen kann und somit auch nicht über ihren eng umgrenzten und allein auf praktischen Erkenntnissen beschränkten Erfahrungsbereich hinaus entscheidungsfähig ist, wird sie wahrscheinlich den Konsequenzen dieser Situation in Form von früher Schwangerschaft, zahlreichen Kindern, irregulärer und schlecht bezahlter physischer Arbeit, schlechter Gesundheit, größerer und langfristiger Abhängigkeit von Zuwendungen sowie mangelnder Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht entgehen, und somit auch ihr soziales Umfeld nicht beeinflussen können.
Besonders prekär ist die Situation jener jungen Flüchtlinge, die keinen Zugang zu Bildung hatten und in bewaffneten Konflikten rekrutiert werden. Armut und Entmachtung bestimmen dann Entscheidungen und Handeln von entrechteten Jugendlichen, die funktionale oder vollständige Analphabeten sind, deren kritische Urteilsfähigkeit und Erfahrung begrenzt sind und die keinen Zugang zu vertrauenswürdigen, rechenschaftspflichtigen Institutionen haben, welche sozialen Schutz bieten. Man kann sich gut vorzustellen, dass gerade die erheblichen Lücken in der humanitären Finanzierung von Dienstleistungen, welche die grundlegende Würde und die Lebensperspektiven in konfliktanfälligen Regionen Afrikas, dem Nahost und Asien sicherstellen sollten, zur aktuellen Flüchtlingskrise erheblich beigetragen haben.
aus: Rundbrief Bildungsauftrag Nord-Süd“ Nr. 86 des WorldUniversityService